Verhilft uns eine vegane Lebensweise wirklich zu sportlichen Bestleistungen?
4. November 2019
von PIERRE SCHOBER und NIKOLA TRBOGLAV

Experte entlarvt

Die „Game Changers“-Lüge

Die Vegan-Doku „The Game Changers“ (Netflix) ist derzeit in aller Munde. Ob Burrito-Test oder vegane Gladiatoren – der Film bietet einiges zum Diskutieren. Grund genug für LOOX, die Ernährungskoryphäe Dr. Nicolai Worm (68) mit den Kernaussagen der Doku zu konfrontieren.

Ist vegane Ernährung leistungsfördernder? Im Film kommen vegan lebende Leistungssportler wie Strongman Patrik Baboumian (40) zu Wort. Produziert wird der Film übrigens von den Hollywood-Giganten James Cameron (65, „Titanic“), Jackie Chan (65) und Teilzeit-Veganer Arnold Schwarzenegger (72), der sich im Film ebenfalls kritisch über den zu hohen Fleischkonsum äußert.

Dr. Worm, vegan gut, Fleisch schlecht! Lässt es sich so einfach zusammenfassen?

Wenn man Vegan-Propaganda machen will, dann schon. Wenn man wissenschaftlich neutral vorgeht, dann nicht.

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Kommen wir zu den „Fakten“, die in der Doku angesprochen werden. Ein Punkt ist das um 400 bis 500 Prozent erhöhte Risiko von Krebserkrankungen, beispielsweise für Prostatakrebs.

Völliger Quatsch.

Es gibt keinerlei Studien, die das zweifelsfrei belegen?

Natürlich. Es gibt immer ein paar Beobachtungsstudien, die für den Konsum von irgendwelchen Nahrungsmitteln oder Inhaltsstoffen irgendein mehr oder weniger großes Krankheitsrisiko ausweisen. Warum ich bei diesen Fragestellungen immer so zögere, ist, dass man verstehen müsste, wie Epidemiologie funktioniert. Reine Beobachtungsstudien haben als Ergebnis Korrelationen zwischen zwei Faktoren, woraus man einen möglichen Zusammenhang errechnet. Gerade zum Thema Prostatakrebs gibt es eine aktuelle Meta-Analyse der epidemiologischen Studien (Mao Y, et al. 2018). Aus ihr wird deutlich, dass es weder Einzelstudien gibt, die ein erhöhtes Prostatakrebs-Risiko für tierisches Protein ausweisen noch wenn man alle Studien gemeinsam auswertet. Risiko bedeutet immer: es handelt sich um reine statistische Zusammenhänge. Diese Beobachtungsstudien können aber grundsätzlich nie beweisen, ob die Zusammenhänge ursächlicher Natur sind.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Weintrinker haben ein niedriges Risiko an Herzinfarkten zu sterben. Es weiß aber niemand genau, ob dass der Wein macht oder aber ob die Weintrinker an und für sich gesünder leben oder entspannter sind und deshalb weniger Herzinfarkte haben. Und beim Fleisch ist es umgekehrt. Wer viel Fleisch isst, wer viel tierisches Protein zu sich nimmt, zeichnet sich dadurch aus, dass er wenig gesundheitsbewusst ist, weil – das wird ja gepredigt – es gesund sei, weniger davon zu essen. Leute die viel davon essen, ignorieren das offensichtlich.

Und hoher Fleischkonsum?

Hoher Fleischkonsum ist ein Marker für einen allgemein ungesünderen Lebensstil – weniger Muskelaktivität, mehr Rauchen, mehr Übergewicht, weniger Gemüse, Salate oder Nüsse etc. Umgekehrt sind unsere Luxus-Vegetarier und -Veganer aus reichen Industrieländern typischerweise Menschen mit höherem Bildungsgrad und höherem Gesundheitsbewusstsein und pflegen entsprechend ganz allgemein einen „gesünderen“ Lebensstil. Das sind die Schwächen an diesen reinen Beobachtungsstudien und sie beweisen deshalb gar nichts. Die vielen Millionen Veganer aus nicht-industrialisierten Ländern, die sich tierischer Produkte enthalten, weil sie sich diese gar nicht leisten können, zeichnen sich ja nicht durch höhere, sondern durch weit weniger Gesundheit und geringerer Lebenserwartung aus.

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Ein weiterer Aspekt ist die Regeneration. Ist das ein Punkt, wo sich eine „tierfreie“ Ernährungsweise positiv bemerkbar macht?

Man muss sagen, dass sich die Filmemacher von „The Game Changers“ zu jeder These eine oder zwei passende Studien ausgesucht haben, die irgendeinen Teilaspekt beleuchten. Und es werden grundsätzlich alle jene vielen Studien ignoriert, welche die entsprechende Vegan-These nicht bestätigten. Man nennt das „Cherry-Picking“, also man pickt sich die Rosinen heraus.

Einer der Experten, die im Film zu Wort kommen, ist Dr. James Loomis, ehemaliger Team-Arzt des NFL-Team der San Louis Rams. Er sagt: „Einer der größten Irrtümer in der sportlichen Ernährungslehre ist, dass wir tierisches Protein brauchen, um Bestleistung abzuliefern.“

Brauchen tun wir es nicht, aber es macht die Sache einfacher. Wenn man auf tierisches Protein verzichtet, muss man pflanzliches Protein geschickt miteinander kombinieren, um die gleiche Qualität zu bekommen. Tierisches Protein ist per se für den Menschen vollwertiger.

Es wird auch argumentiert, dass etwa Kühe Proteinlieferanten sind. Die essen Pflanzen. Warum also noch diesen Zwischenschritt mit der Kuh einbauen und nicht direkt auf pflanzliche Produkte zurückgreifen?

Dieser Vergleich ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten. Versuchen sie mal Gras zu fressen und gucken, was mit den Muskeln passiert (lacht). Wir haben nicht den Magen-Darm-Trakt, den Kühe haben. Die haben ein speziell ausgebildetes System. Mit Hilfe der sieben Mägen und der darin lebenden Milliarden Mikroorganismen bzw. Bakterien, bauen sie aus pflanzlichen Ballaststoffen Fett und Proteine. Die Kühe leben nicht von Pflanzen, sondern davon, was die Bakterien daraus herstellen – bakterielles Fett und Protein.

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Der Film geht auch auf das Verdauungssystem ein. So ist der Verdauungstrakt des Menschen viel länger und größer als der eines reinen Fleischfressers, etwa des Löwen.

Wir sind keine reinen Fleischfresser. Wir sind Allesfresser. Wir können ohne tierische Produkte überleben. Aber kein Naturvolk würde dies freiwillig machen, weil es viel mehr Mühe und Energie kostet sich allein über Pflanzen mit allen wichtigen Nährstoffen zu versorgen. Es gibt kein vegetarisch lebendes Naturvolk. Wenn diese tierische Kost bekommen, essen sie diese mit Begeisterung. In der „freien Wildbahn“ wäre es ziemlich dumm auf tierische Produkte zu verzichten. Vegetarismus entsteht immer erst in Kulturen und verfolgt dabei bestimmte Zwecke.

Macht es denn einen Unterschied, ob man Kraft- oder eher Ausdauersportler ist? Ist es beispielsweise für einen Läufer leichter, auf tierische Proteine zu verzichten?

Das ist meines Wissens systematisch noch gar nicht überprüft worden, ob das irgendeinen Einfluss hat.

Wie sieht es mit tierischen Fetten aus. Haben die einen Einfluss auf die sportliche Leistungsfähigkeit?

Na ja. Fische sind auch tierische Fette. Milchfette sind besonders leicht verdaulich und sehr bekömmlich für Sportler. Tierische Fette liefern im Gegensatz zu den pflanzlichen auch die hochungesättigten, essenziellen Fettsäuren (Eicosapentaensäure, Decosahexaensäure, Arachidonsäure). Ich kenne keine einzige Studie, die den Hinweis geliefert hat, dass tierische Fette irgendeinen negativen Effekt auf die sportliche Leistungsfähigkeit haben.

Bei „Game Changers“ wird dies ja anhand des „Burrito-Tests“ belegt.

Meinen Sie, das hat eine Aussagekraft? Wenn sie irgendwelche Leute einen Burrito essen lassen und dann irgendeinen Messwert für einen Kurzzeiteffekt nehmen? Das ist lächerlich. Das ist keine ernstzunehmende Wissenschaft.

Es gibt auch keinen Zusammenhang mit der sexuellen Leistungsfähigkeit, wie im Film dargestellt?

Das muss man in systematischen Studien bei verschiedenen Menschengruppen untersuchen. Bei Männern, bei Frauen, in allen Altersgruppen systematisch testen – in randomisiert-(Placebo)kontrollierten Studien. Dann erst könnte man eine Aussage machen. Das ist aber nie gemacht worden. Das sind Tricks mit denen man Laien übertölpeln kann.

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Ich gehe dann mal davon aus, dass Sie auch die Vergleiche zu den Gladiatoren, die ja angeblich vorwiegend pflanzlich ernährt wurden und dementsprechend angeblich auch „Bohnen- und Gersten-Fresser“ genannt wurden, für wenig plausibel halten.

Wer es glaubt. Es wird wahrscheinlich eine Quelle herausgepickt worden sein. Gehen Sie davon aus, dass dies nicht der Regelfall war, sondern je nach Region und Angebot variiert hat. Meines Wissens zeigen verschiedene Knochenuntersuchungen, dass sehr wohl auch tierische Kost verzehrt wurde.

Es gibt ja bekennende Veganer unter den Top-Sportlern dieser Welt – Lewis Hamilton, Serena Williams, Novak Djokovic. Kann deren vegane Ernährungsweise dazu geführt haben, dass sie auch im höheren Sportleralter noch diese Top-Leistungen bringen?

Zunächst einmal geht Leistungssport und vegan ohne Supplemente nicht. Die Lücken, die vegane Kost enthält, müssen geschlossen werden, damit es vollwertig wird. Ich bin mir sicher, dass diese Sportler auch auf Supplemente zurückgreifen.

Sonst?

Sonst gibt es Mangelerscheinungen, was sicherlich nicht leistungsfördernd ist. Wenn man weiß, wie es geht, kann man mit veganer Kost vollkommen normal ernährt sein. Wenn man eben die Lücken schließt. Daran gibt es ja gar keinen Zweifel. Wenn die Veganer nicht ständig behaupten würden, dass sie besser seien, hätte ich auch gar nichts dagegen (lacht). Aber ich wehre mich gegen das ewige: „Wir sind besser als ihr, weil wir keine Tiere essen.“ Dafür gibt es keine Beweise.

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Es gibt den genannten Sportlern, die ja alle schon etwas älter sind, keinen Extra-Kick?

Tierische und pflanzliche Proteine bestehen aus exakt den gleichen Bestandteilen. Da sind genau die gleichen Aminosäuren drin. Das ist nicht so, als wäre dies etwas vollkommen anderes. In manch tierischen Proteinen haben wir manche Aminosäuren in höherer Konzentration, aber es sind die gleichen Aminosäuren. Es ist nicht so, als wäre dies eine andere Stoffklasse.

Kommen wir zur letzten Frage.

Eins muss ich erst noch sagen. Ich glaube auch, dass immer eine große Placebowirkung eine Rolle spielt. Bei einem Sportler kann der Glaube an eine Ernährungsumstellung, hin zu beispielsweise vegan, eine große psychologische Rolle spielen. Deshalb fordert man in der Wissenschaft ja auch Placebo-Tests, um diese psychischen Einflüsse so weit wie möglich auszuschließen. Die fehlen in der veganen Diskussion ja. Man müsste einen Placebo erfinden, wie man vegan gegen nicht vegan testet, ohne das Wissen oder Überzeugung dahintersteht.

Sie selbst essen Fleisch.

Ich habe aber keine Interessenkonflikte. Ich habe keine „Fleisch“-Lobby hinter mir. Ein großes Problem bei diesen ganzen Geschichten ist, dass selten angegeben wird, ob jemand Aktivist oder überzeugter Veganer ist. Wenn Sie für eine Philosophie kämpfen, dann ist das aus wissenschaftlicher Sicht ein erheblicher Interessenskonflikt und den sollte man angeben bzw. deutlich machen. Sofern ich Interessenkonflikte bei Vorträgen oder wissenschaftlichen Veröffentlichungen habe, gebe ich die natürlich an.

Jetzt aber die letzte Frage, mit ein wenig Augenzwinkern. Wer macht denn das bessere Marketing, die Fleisch- oder die Veganindustrie?

(Lacht) Die Fleischindustrie macht ja gar kein nennenswertes Marketing mehr. Was mich bei dem ganzen Vegan-Hype auf die Palme bringt, sind die großen Player im Hintergrund. Big Food und Big Money geben Hunderte von Millionen für PR aus, nicht weil sie Weltverbesserer sind, sondern weil wirtschaftliches Interesse dahinter steckt. Es fängt an bei Bill Gates und anderen Investoren, es geht weiter bei Nestlé, Unilever und anderen Größen auf dem Lebensmittelmarkt. Die generieren die größten Gewinnmargen über vegane Kost und sehen dort einen Trend, den sie ausnutzen. Follow the money – im Hintergrund steht heute vor allem „Geld“.

Fazit: Wir können einen 85-Minuten-Film natürlich nicht komplett in einem Artikel sezieren, wollten die Kernaussagen aber mit einem Experten besprechen. „The Game Changers“ ist hervorragende Unterhaltung, wissenschaftlich doch aber eher kritisch zu beurteilen. Aus sportwissenschaftlicher Sicht gibt es keinen Grund, komplett auf tierische Proteine zu verzichten. Da fehlen schlicht und ergreifend die unwiderlegbaren Beweise. Hinzu kommt, dass eine rein vegane Ernährung ohne Supplementierung für Sportler sogar kontraproduktiv wirkt.

Dr. Nicolai Worm

DR. NICOLAI WORM, geboren 1951 in München, studierte Oecotrophologie an der TU München und promovierte an der Universität Gießen. Von 1979 bis 1985 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialmedizin, Prävention und Rehabilitation in Tutzing/Starnberger See. Lehrtätigkeiten im Bereich Sporternährung (Trainer-Akademie, Deutscher Sportbund, Köln; Universität Innsbruck). Von 1996 bis 2007 Mitglied des Humanwissenschaftlichen Zentrums (HWZ) der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Viele Jahre deutscher Vertreter in der Expertengruppe „Ernährung und Wein“ beim Office International de la Vigne et du Vin (Internationaler Weinbauverband, O.I.V.) in Paris; er fungiert als wissenschaftlicher Beirat der Deutschen Weinakademie in Mainz. Seit 1987 ist er als Referent in der ärztlichen Fortbildung tätig und seit 2009 Professor an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHPG).

Einem breiten Publikum durch zahlreichen Bücher (einige Bestseller) und durch TV-Auftritte bekannt. Er ist der Vater der LOGI-Methode und der bekannteste deutsche Vertreter kohlenhydratreduzierter Kostformen (Low-Carb-Ernährung). Bei seinem neuen Präventionskonzept „Flexi-Carb“ wird die Kohlenhydratzufuhr abhängig von der Muskel-Aktivität gemacht.

Mehr Info unter: www.nicolai-worm.de